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Was für ein Puzzle. Ein Koffer mit einem fliegenden Auge, ein Briefumschlag, fünf Kisten mit Medikamenten, Hochpräzisionsoptik, Umzugstüten, Gaypropaganda und diverse Computer. – Natürlich verteilt in Bonn und Hamburg, in Berlin-Neukölln und Lichtenberg, im Lidl und bei mir unter dem Bett. Und die Puzzleteile sollen nach Warschau und Lviv, von dort weiter nach Kyiv, Kharkiv und Zaporizhizha. Und natürlich sind auch Teile für die Rücktour angekündigt: Pakete für Utrecht und 20 Engel.

Kurz vor der geplanten Abfahrt fehlen immer noch wichtige Teile, es ist wie immer: Just in Time. Und es kommen weitere Anfragen, ob ich schon unterwegs bin, oder noch Hundefutter passt.

Wie so eine Tour organisiert wird? Ich weiß es nicht!

Wie so was klappt? Das weiß ich!

Hier sind dutzende Menschen engagiert und verbindlich, mit viel Liebe und Hoffnung unterwegs. – Auch wenn mir am Abend vor der Abfahrt der Kopf platzt, er einfach nicht leer wird, ich nervös von einem Gedanken zum anderen stolpere, Freunden Sprachnachrichten und Tränen schicke, um diesen Druck los zu werden. Das ist dieses Mal keine Routine. Ich habe Angst etwas zu vergessen, irgendwas nicht richtig zu machen und natürlich fahre ich eine komplett neue Strecke: Über Warschau in die Ukraine, das ist Neuland und in meinem Auto stapeln sich 23Tsd. Euro in Spenden.

Und mit der Abfahrt liegen 2000 Kilometer vor mir: Berlin, Warschau, Lviv und wieder Berlin. Und natürlich hoffe ich alles in 36 Stunden zu schaffen. Ich habe nach der Tour wichtige Termine. Und tatsächlich beruhigt es mich, den Motor zu starten und auf die Autobahn zu fahren. Im Tun, verlieren alle gedanklichen Verzweigungen ihre Bedeutung.

Warschau bei Nacht und Regen, ich treffe Max auf einem Parkplatz, übergebe Geld für einen Jeep, welchen er an die Front bringt. Und ein Nachtsichtobjektiv für Scharfschützen. – Ich weiß nicht, ob ich dem Krieg in der Ukraine jemals näher war, als in diesem Moment, wo ich Werkzeuge zum Töten durch die Welt fahre. Der Koffer mit dem fliegenden Auge ist eine Drohne mit Wärmebildkamera. – Diese Dinge sind in wenigen Tagen an der Front. An der sogenannten Kontaktlinie, bei Zero.

Ich suche irgendwo vor Lublin ein billiges Hotel. Und freue mich: In Osteuropa sind die Hotels immer an einem Motto ausgerichtet. – Ich schlafe dreieinhalb Stunden zwischen Delphinen und Mittelmeerkulisse.

Am nächsten Morgen verpasse ich meinen Zeitplan, die S17 in Polen ist eine Bundesstraße, mit Traktoren und Alltag, und schlängelt sich als Geduldsprobe zur Grenze. ‚Nie wieder diese Strecke!‘, fluche ich die ganze Zeit und erreiche irgendwann Hrebenne. – Das klingt total Italienisch: Hrebenne, Hrebenne, Hrebenne wiederhole ich im Kopf. Die Polen winken mich durch, nun beginnt das Zoll-Spiel: Ich laufe wie auf einem Jahrmarkt zwischen den verschiedenen Buden hin und her. Schlendere ahnungslos zwischen Zoll, Personenkontrolle und irgendwelchen anderen Schaltern auf und ab, sammle Stempel, bekomme einen Tipp von einem LKW-Fahrer, gebe Unterschriften und darf irgendwann einreisen. Ich atme auf. Das ist jedes Mal der Hauptgewinn.

130 Kilometer später. Lviv ist so schön. Mein Petro, ein Held. Danach ein Stopp bei der Insight NGO, am Stadtrand Umzugstüten bei Olias abgeben und schon geht es zurück zur Grenze.

Ein neues Spiel beginnt: Wie lange wird der Übertritt dauern? Es ist 14:00 Uhr. Ich habe die Hoffnung, dass ich vor Mitternacht in meinem Bett liege. – Die Hoffnung schwindet, Stück für Stück. Um 21:00 Uhr stehe ich endlich bei der polnischen Abfertigung, und vermutlich bin ich einfach zu freundlich. Das macht mich verdächtig. Nach sieben Stunden hat hier bitte mehr niemand gute Laune!

Ich komme in die KFz-Halle, wo ich das komplette Inspektionsprogramm erhalte: Röntgen und Detailinspektion durch einen Mechaniker. – Ich beobachte eine ukrainische Familie: Eine Frau wiegt ein Baby im Arm, ihre zwei großen Kinder starren an die Decke, der Mann öffnet nacheinander die Koffer. – Ich bin ziemlich sauer. Das ist doch Scheiße! – Und dann bin ich dran. – Natürlich findet er nichts. – Das ist doch genauso Scheiße.

Um 22:00 Uhr treffe ich endlich auf die polnische A4. Vor mir liegen 900 Kilometer. Ich werde in Berlin sein, wenn die Sonne aufgeht.


Dieser Reisebericht ist von Sophie übermittelt worden. Die Unterstützung gilt unter anderem einer Amateurfunk Gruppe in der Ukraine. Siehe auch den Reisebericht Ukraine vom 30-03-2023 — ff —

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